Positionen

Private Equity auf dem Vormarsch

Fortschreitende Ökonomisierung des deutschen Gesundheitssystems

Von Harald Weinberg MdB

Private Beteiligungen an Unternehmen in Form von Private Equity (PE) greifen seit Jahren mit steigender Tendenz um sich. Investoren sind dabei auf der Suche nach Unternehmen, die hohe und stabile Cashflows aufweisen. Die Anlagestrategie zielt darauf ab, in möglichst kurzer Zeit sehr hohe Renditen auf das angelegte Kapital zu erzielen. Dabei spielt die langfristige Perspektive der Unternehmen sowie der Unternehmenszweck nur eine untergeordnete Rolle. Laut Pressemitteilung des Beratungsunternehmens „Ernst & Young“ vom 28.12.2017 kauften Finanzinvestoren im Jahr 2017 „so viele deutsche Unternehmen wie noch nie“. Erwartet wird für 2018 gar ein nochmaliger Anstieg von Private-Equity-Transaktionen.[1] In den letzten Jahren wurden in diesem Zusammenhang u.a. verstärkt Einrichtungen aus dem Bereich der Gesundheitsversorgung und Pflegeeinrichtungen von Private-Equity-Investoren gekauft.[2] Somit ist das Gesundheitswesen in den Fokus von Finanzinvestoren gerückt. Davon betroffen sind nicht nur Pflegeheime, sondern auch Krankenhäuser, Reha-Kliniken, ambulante Pflegedienste, Arzt- und Zahnarztpraxen sowie Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Derzeit bilden sich zwei Schwerpunkte heraus: MVZ und Pflegeeinrichtungen. Rund 50 PE-Gesellschaften investieren zurzeit in Gesundheitseinrichtungen in Deutschland.[3]

Gravierende Folgen möglich

Die Folgen können verheerend sein. So warnt die Gewerkschaft ver.di in diesem Zusammenhang vor den Aktivitäten der Finanzinvestoren, da dies weitreichende Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Einrichtungen und die Versorgungsqualität für Patientinnen und Patienten haben könnte.[4] Schließlich müssen die Zahlen stimmen – da ist die Versorgung von Patientinnen und Patienten sowie die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten dann folglich zweitrangig. So wirbt beispielsweise die Advita Pflegedienst GMBH, die ambulante Pflege, Tagespflege sowie betreutes Wohnen anbietet, damit, dass sie auf „sinnentleerte Vorschriften“ wie „Fachkraftquoten“ verzichten. Damit wird der vorherrschende Pflegenotstand komplett ignoriert, an einer Verbesserung der Situation für die Pflegebeschäftigten gibt es kein Interesse – die Profite sind wichtiger. Der finanzielle Druck bringt letztlich alle Beteiligten dazu, die Renditeerwartung immer öfter vor die Interessen der Patientinnen und Patienten zu stellen.

Zugleich herrscht eine völlige Intransparenz über die Kapitalbeteiligungen und wer konkret dahinter steckt. Es kann keine absolute Anzahl von Übernahmen durch Private-Equity-Gesellschaften genannt werden, da beispielsweise weder die MVZ-Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung noch die der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung die tatsächlichen Besitzverhältnisse veröffentlichen, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE hervorgeht.[5] Dadurch bleiben die PE-Geschäfte im Verborgenen und somit auch nur schwer kontrollierbar.

Die Strategie der PE-Investoren basiert auf einer Aufkauf-Kaskade: Zunächst kaufen Krankenhäuser Arztsitze auf, um via Gründung von MVZ ihre „Wertschöpfungskette“ zu erweitern. Durch den Aufkauf von einzelnen Praxen wird schrittweise das Versorgungsnetz erweitert. Dann kaufen PE-Investoren die Krankenhäuser auf, obwohl sie kein wirkliches Interesse an stationärer Versorgung haben, sondern die MVZ einkassieren wollen. Reguläre Arztpraxen stehen plötzlich im Wettbewerb mit Praxisketten. Die Konsequenzen sind: Durch die pure Gewinnorientierung von PE werden Akteure der Gesundheitsversorgung darauf getrimmt, sich nur noch als Unternehmen zu begreifen und ihre Marktbehauptung sowie die Profitorientierung in den Mittelpunkt ihrer Strategie zu stellen. Ihr eigentlicher Auftrag, die Versorgung von Menschen, gerät dabei zunehmend in den Hintergrund. Patientinnen und Patienten werden folglich wie Abrechnungsziffern behandelt, die zwischen Gewinninteressen auf der einen und Sparzwang auf der anderen Seite zerrieben werden. Nachdem diverse Kritik laut und davor gewarnt wurde, dass Renditestreben über Patienteninteressen gestellt werden könnte, sah sich bereits 2012 der Gesetzgeber genötigt, den Kreis möglicher MVZ-Gründer einzuschränken, um die „Unabhängigkeit medizinischer Entscheidungen zu sichern“. Die Tür für PE-Investitionen in der ambulanten Versorgung wurde jedoch mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz nicht geschlossen.[6]

Aktuell fordert auch Prof. Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, dass der Gesetzgeber die Weichen stellen muss, um PE einzudämmen.[7] Konzerninteressen und Renditestreben dürfen niemals über das Wohl von Patientinnen und Patienten gestellt werden, so lautet eine Forderung von dem 121. Deutschen Ärztetag in Erfurt.[8]Die große Koalition von Union und SPD ist bisher jedoch untätig. Die Probleme sind bekannt, Union und SPD schauen aber zu, wenn Spekulanten mittelständische Betriebe in kürzester Zeit kaufen, auf Kosten der Beschäftigten auseinandernehmen um die Shareholder Value in die Höhe zu treiben und dann wieder verkaufen.

Gewinn- vs. Gemeinwohlorientierung

Private Equity reiht sich als eine Art Speerspitze des Finanzmarktkapitalismus in eine grundsätzliche Auseinandersetzung ein: Markt- und Gewinnorientierung vs. Gemeinwohlorientierung. Es muss immer wieder betont werden: Diese Verhältnisse hat die vorherrschende Politik geschaffen, sie sind nicht vom Himmel gefallen. Es gab seinerzeit einmal einen Nachkriegskonsens. Der bestand darin, dass es hieß: Wir nehmen bestimmte Bereiche aus der Marktwirtschaft heraus, da lassen wir marktwirtschaftliches Geschehen und auch Profitwirtschaft nicht zu. Das betraf im Wesentlichen die Altersversorgung, die Gesundheit und die Arbeitslosenversicherung. Allgemein wurde dies „Daseinsvorsorge“ genannt. Im Zusammenhang mit der Übermacht der Ideologie des absoluten Marktes, hat es eine Öffnung dieser Bereiche für die Kapitalverwertung bzw. für anlagesuchendes Kapital gegeben. Bei den Krankenkassen hat es dazu geführt, dass sie inzwischen wie erwähnt de facto als Unternehmen betrachtet und mit den Zusatzbeiträgen in einen ruinösen Wettbewerb getrieben werden.

Die Politik hat sich von einer Gemeinwohlorientierung des Sozialstaatsgebotes, welches per Grundgesetz vorgegeben ist, entfernt und baut das Gesundheitssystem in Deutschland mit immer mehr Wettbewerbselementen marktwirtschaftlich um. Trotz der verheerenden Folgen wird die Geschichte einfach fortgesetzt, indem noch mehr Wettbewerb im Gesundheitsbereich eingeführt wird. Auch das Unwesen wird fortgesetzt, den Lobbyisten der Leistungserbringer mehr entgegenzukommen als den berechtigten Interessen der Versicherten. Die bisherigen Bundesregierungen haben durch den Wettbewerb die Gesundheitsversorgung kontinuierlich ökonomisiert. Damit verkommt die Gesundheit immer mehr zu einer Ware. Dazu seien hier noch zwei Beispiele genannt:

  • Krankenhäuser sind von der Ökonomisierung in besonderem Maße betroffen. Das 2003 beschlossene Vergütungssystem (Fallpauschalen, DRG) zwingt die Krankenhäuser mehr denn je in einen ökonomischen Wettbewerb. Nicht die Qualität, sondern die Fallzahlen entscheiden über Sieger und Verlierer in diesem Wettlauf. Als Versicherter muss man befürchten, zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Krankenhauses operiert zu werden und nicht aus medizinischen Gründen. Zugleich wurde gerade in der Pflege ein massiver Stellenabbau betrieben, der den heute bestehenden Pflegenotstand wesentlich mit verursacht hat. Die fortschreitende Privatisierung von Krankenhäusern verschärft den Wettbewerb und verringert die demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten.
  • 2015 trat das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz von Union und SPD in Kraft. Damit wollte die Große Koalition die Ärztinnen und Ärzte zwingen, ihre Praxen dort zu eröffnen, wo sie gebraucht werden- und nicht dort, wo sie am meisten Privatpatienten vorfinden. Ursprünglich war eine Regelung vorgesehen, die an sich schon recht harmlos war; denn nur in Gebieten, die schon zu 110 Prozent versorgt sind, sollte laut damaligem Gesetzentwurf der zuständige Ausschuss aus Ärzteschaft und Krankenkassen gemeinsam entscheiden, ob eine Praxis, deren Inhaber aus Altersgründen ausscheidet, nicht nachbesetzt wird. Darin waren schon drei Bedingungen enthalten: Erstens. Die Region muss überversorgt sein. Zweitens. Die Ärzte müssen zustimmen, dass diese Praxis tatsächlich nicht gebraucht wird. Drittens. Diese Regelungen treffen keinen einzigen aktiven Arzt, weil sie nur im Falle eines Eintritts in den Ruhestand zur Geltung kommen. Die Ärzteschaft hat dann ihre ganze Lobbykampfkraft mobilisiert und die Bundesregierung hat tatsächlich nachgegeben. Folglich hatte die Regelung gar keine Zähne mehr, weil sie nur noch dort gilt, wo ein Versorgungsgrad von 150 Prozent und mehr erreicht ist, also nur noch in ganz wenigen Regionen. Mit dieser Regelung kann keine gute Versorgung auf dem Land oder in vernachlässigten innerstädtischen Gebieten organisiert werden. Die Probleme sehen wir noch heute.

Der Wettbewerb zwischen und innerhalb der Krankenkassen, Ärzteschaft, Krankenhausträger und Apotheken muss wieder zurückdrängt werden. Die Versorgungsfunktion, die ihnen im Gemeinwohlinteresse per Gesetz zugeteilt wurde, muss endlich wieder in den Mittelpunkt rücken. Eine Neuausrichtung der Gesundheitspolitik, die sich vom Fetisch des Wettbewerbs entfernt, ist absolut überfällig. Und die Eindämmung des verheerenden Wirkens der PE-Investoren muss dazu ganz oben auf die gesetzgeberische Tagesordnung.

ZUSATZBEITRÄGE ABSCHAFFEN! PARITÄT WIEDERHERSTELLEN!

  • Dienstag, 16 August 2016
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Zusatzbeiträge abschaffen! Parität wiederherstellen!

Der Wahlkampf ist eröffnet: Gesundheitsminister Gröhe (CDU) will mit einem Griff in den Gesundheitsfonds den Anstieg der Zusatzbeiträge bremsen. Laut aktuellen Berechnungen kommen auf Durchschnittsverdienerinnen und -verdiener Zusatzbeiträge von mehr als 50 Euro im Monat zu – mehr als eine Verdoppelung innerhalb der nächsten vier Jahre. Millionen Versicherte müssen noch mehr Geld für ihre Krankenversicherung ausgeben, während sich die Arbeitgeber einen schlanken Fuß machen. 

Das kommt vor der Bundestagswahl nicht gut an, also sollen nächstes Jahr 1,5 Milliarden zusätzlich aus den Reserven an die Krankenkassen ausgeschüttet werden. Damit bekämpft Gröhe die Folgen seiner eigenen Politik. CDU/CSU und SPD haben den Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung zum 1. Januar 2015 auf 14,6 Prozent festgesetzt. Die Zusatzbeiträge, die der CDU-Gesundheitsminister nun begrenzen will, haben er und seine Koalition beschlossen. Die Arbeitgeber wurden aus der Verantwortung entlassen, die paritätische Finanzierung („halbe-halbe“) ausgehebelt. 

Nun begründet Gröhe die Entnahme von 1,5 Milliarden Euro mit gestiegenen Kosten der Krankenkassen für die Versorgung von Geflüchteten. Diese Argumentation können nicht einmal die Krankenkassen nachvollziehen, wie die Ärztezeitung berichtet. Das Problem liegt darin, dass für alle Hartz IV-Betroffenen – und diesen Status haben Flüchtlinge nach 15 Monaten Aufenthalt, wenn sie keinen Arbeitsplatz haben – zu wenig Geld an die Kassen gezahlt wird. Dies sollte Gröhe ändern und kein Strohfeuer entfachen. Damit sorgt er für Katerstimmung nach dem Wahljahr. So macht man Politikverdrossenheit, keine seriöse Politik.

DIE LINKE hat auf diese Entwicklung im Bundestag immer wieder hingewiesen, stieß aber auf taube Ohren. Unseren Antrag, Zusatzbeiträge abzuschaffen und die paritätische Finanzierung wieder herzustellen, wollen CDU/CSU und SPD ablehnen. Der Anstieg der Zusatzbeiträge war absehbar. Doch die Koalition weigert sich, den Kurs der Ungerechtigkeit zu verlassen. Dabei ginge es auch anders: Wenn die von uns vorgeschlagene solidarische Gesundheitsversicherung umgesetzt würde, wären nicht nur sämtliche Zusatzbeiträge abgeschafft, obendrein könnten die Krankenkassen ihre Beitragssätze um Rund ein Drittel senken. 

Statt derzeit durchschnittlich 15,7 Prozent könnte der Beitragssatz nach einer Studie dauerhaft zwischen zehn und elf Prozent liegen. Dazu müsste man auf alle Einkommen – nicht nur auf Erwerbseinkommen, sondern auch auf Kapitaleinkommen und Gewinne – einen Beitrag erheben. Auch hohe Einkommen würden nach unserem Konzept in die Solidarität einbezogen, die Beitragsbemessungsgrenze abgeschafft. Und letztlich würden alle in Deutschland lebenden Menschen, auch privat Krankenversicherte, Politiker, Beamte und Selbständige Mitglied der solidarischen Gesundheitsversicherung. Dies bedeutet mehr Gerechtigkeit, Senkung der Beitragssätze für alle und finanzielle Spielräume für Leistungsverbesserungen. Von der Koalition ist dies leider nicht zu erwarten.

TARIFABSCHLUSS FÜR MEHR PERSONAL AN DER BERLINER CHARITÉ: EIN WICHTIGES SIGNAL FÜR DIE GANZE REPUBLIK

  • Montag, 30 Mai 2016
Tarifabschluss für mehr Personal an der Berliner Charité: Ein wichtiges Signal für die ganze Republik

Mit dem Abschluss des bundesweit ersten Tarifvertrags für mehr Personal im Krankenhaus wurde Ende April an der Charité ein Stück Gewerkschafts- und Krankenhausgeschichte geschrieben. Als LINKE haben wir diese Geschichte an verschiedenen Stellen mitgeschrieben – im Parlament, im Betrieb und in der Soliarbeit.

Im Folgenden haben wir einige Informationen und Artikel rund um den Tarifabschluss zusammengestellt: Wie beurteilt Ver.di das Ergebnis? Was genau wird jetzt eigentlich tariflich geregelt? Wie wird in der Presse darüber berichtet? Und wie geht es jetzt weiter mit den Kämpfen für mehr Personal?

Ver.di zum Tarifvertrag

  • Auf der Webseite von ver.di findet ihr Bericht und Bilder zum Abschluss des Tarifvertrags. Weiter unten sind dort einige der Glückwünsche aus der Ver.di-Führung zu lesen, u.a. von Frank Bsirske und Sylvia Bühler (Leiterin des Bundesfachbereichs Gesundheit & Soziales). Dort ist auch das Gratulationsschreiben unserer Fraktioneingestellt.
  • Im Flugblatt der ver.di Tarifkommission werden die Personalstandards, Regelungen und Konsequenzen des neuen Tarifvertrags genauer beschrieben.

Presse zum Tarifvertrag

  • Tarifabschluss an der Charité: Der Kampf geht weiter | Tagesspiegel, 28.04.2016
    Die Berliner Universitätsklinik verpflichtet sich zu mehr Personal, weil die eigenen Pflegekräfte dafür sogar streikten. Das ist mehr als ein Tarifabschluss – nämlich Bundespolitik. Ein Kommentar.
  • Mehr Personal für Berliner Uniklinik: Die Charité schreibt Tarif-Geschichte | Tagesspiegel, 28.04.2016
    [Auszug aus dem Artikel:] 
    Wissenschaftssenatorin und Charité-Aufsichtsratsvorsitzende Sandra Scheeres (SPD) sagte: „Der Tarifvertrag ist deutschlandweit einmalig und wegweisend. Gerade darum ist es notwendig, dass Bund und Krankenkassen endlich für eine bessere Finanzierung der Pflege sorgen.“ (…)
    „Der Abschluss ist ein Novum, bundesweit“, sagte Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU). „Er wird hoffentlich Signalwirkung entfalten. Ein guter Tag nicht nur für die Charité, sondern für die gesamte Krankenhauslandschaft.“
  • Endlich gibt es Ansprüche an die Qualität« | Junge Welt, 30.04.2016
    Die Beschäftigten der Universitätsklinik Charité haben die Einstellung von mehr Personal durchgesetzt. Ein Gespräch mit Carsten Becker (Vorsitzender der ver.di-Betriebsgruppe am Berliner Universitätsklinikum Charité)

    [Auszug aus dem Interview:] 
    „Vor vier Jahren haben uns viele gesagt, dass wir niemals so eine Vereinbarung bekommen werden. Aber wir haben trotz aller Widrigkeiten durchgehalten. Und jetzt gibt es ein Regularium, das eine Höchstbelastung für die Beschäftigten festlegt. Natürlich herrscht da Freude bei uns. Aber dieser Tarifvertrag ist auch ein Kompromiss.“

DIE LINKE zum Tarifvertrag und den Perspektiven

  • Wie die Tarif- und Streikbewegung an der Charité nun bundesweit Schule macht, beschreibt Jan Latza im Artikel Streiken gegen den Pflegenotstand.
  • Mit dem mickrigen „Pflegestellen-Förderprogramm“ von 2015 hat die Große Koalition den Pflegenotstand in Krankenhäusern auf Jahre zementiert. Wie dieser Zement durch weitere Pflegestreiks aufgebrochen werden kann, erklärt Harald Weinberg im Interview.
  • Zum Schluss noch der Hinweis auf einen Hintergrund-Artikel, in dem es um die Frage geht:  Warum herrscht Pflegenotstand in Krankenhäusern, und was können wir dagegen tun?

AUS POLITISCHER UND MORALISCHER SICHT IST DAS UNTERLASSENE HILFELEISTUNG

  • Freitag, 13 Mai 2016

betrieb & gewerkschaft Mai 2016

INTERVIEW MIT HARALD WEINBERG

In deutschen Krankenhäusern herrscht Pflegenotstand – es fehlen 100.000 Pflegekräfte. Immer weniger Beschäftigte müssen immer mehr Patientinnen und Patienten in kürzerer Zeit versorgen. Die Folgen: fehlende Zuwendung, mangelnde Hygiene bis hin zu mehr Komplikationen und Unfällen. Wir sprechen mit Harald Weinberg, Sprecher für Krankenhauspolitik und Gesundheitsökonomie der Bundestagsfraktion DIE LINKE, über die Verweigerung der Großen Koalition, das Systemversagen zu stoppen.

betrieb & gewerkschaft: In deutschen Krankenhäusern herrscht Pflegenotstand. Wie lässt er sich beseitigen?

Harald Weinberg: Das zentrale Instrument gegen den Pflegenotstand ist eine gesetzliche Personalbemessung, wie sie DIE LINKE gemeinsam mit der Gewerkschaft ver.di und verschiedenen Pflege- und Ärzteverbänden fordert. Dabei geht es um eine für alle Krankenhäuser verbindliche Quote, wie viele Kranke eine Pflegekraft maximal versorgen darf. Im Bundestag gibt es dafür aber bislang keine Mehrheit, obwohl die SPD die Forderung 2013 in ihr Wahlprogramm geschrieben hat.

Was unternimmt die Bundesregierung?

Sie verteilt Placebos und behauptet selbstgefällig, damit die Situation der Pflege zu verbessern. Anstatt eine gesetzliche Personalbemessung einzuführen, hat die Große Koalition im letzten Jahr ein mickriges „Pflegestellen-Förderprogramm“ beschlossen, mit dem in den nächsten drei Jahren maximal 6.500 neue Stellen geschaffen werden. Der Pflegenotstand wird damit für viele weitere Jahre festgeschrieben. Aus politischer und moralischer Sicht ist das unterlassene Hilfeleistung – gegenüber den Beschäftigten, wie gegenüber den Patientinnen und Patienten.

Im letzten Jahr hat ver.di an der Berliner Charité für eine tarifliche Personalbemessung gestreikt. Ist das der Weg zum Gesetz?

Die Pflegestreiks für mehr Personal, die jetzt nach dem Modell der Charité bundesweit vorbereitet werden, geben Anlass zur Hoffnung. Sie haben das Potenzial, um bundespolitisch den Druck zu erzeugen, der für die Durchsetzung einer gesetzlichen Personalbemessung notwendig ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass durch einen Streik ein Gesetz erkämpft wird.

Du meinst die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die 1957 gesetzlich eingeführt wurde, nachdem Metallarbeiter erfolgreich für einen Tarifvertrag zur Lohnfortzahlung gestreikt hatten?

Genau, die damalige Adenauer-Regierung hatte eine gesetzliche Regelung bis dahin strikt abgelehnt. Aus Angst vor einem Übergreifen der Streikbewegung auf andere Regionen und Branchen wurde kein halbes Jahr nach dem Tarifabschluss das Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle verabschiedet.

Die Verantwortung für die bevorstehenden Tarifauseinandersetzungen in den Krankenhäusern trägt die Bundesregierung. Die spannende Frage ist: Wie wird sie sich verhalten, wenn 15, 20 oder mehr Krankenhäuser für eine tarifliche Personalbemessung streiken?

BESSER FÜR ALLE!

  • Sonntag, 13 März 2016
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Distput März 2016

WARUM HERRSCHT PFLEGENOTSTAND IN KRANKENHÄUSERN, UND WAS KÖNNEN WIR DAGEGEN TUN?

Von Harald Weinberg und Jan Latza

In deutschen Krankenhäusern fehlen 100.000 Pflegestellen. Die massive Arbeitsüberlastung bezahlen nicht nur die Pflegenden mit ihrer Gesundheit. Zahlreiche Studien weisen eindeutig nach, dass bei den Patientinnen und Patienten die Risiken für (schwerwiegende) Komplikationen bei Unterbesetzung des Pflegepersonals beträchtlich steigen: Unzählige Druckgeschwüre, Keiminfektionen, Lungenentzündungen etc. wären vermeidbar – und damit auch viele Todesfälle.

Kostendruck, Markt und Wettbewerb

Der massive Personalmangel hat politische Ursachen: In den letzten 20 Jahren wurde bundespolitisch ein grundlegender (neoliberaler) Paradigmenwechsel in der Krankenhauspolitik durchgesetzt: Heute werden Krankenhäuser als eigenständige kapitalistische Unternehmen gesehen, die sich wirtschaftlich am Markt bewähren müssen – sonst sind sie in dieser betriebswirtschaftlich-technokratischen Perspektive überflüssig. Sie können und müssen Gewinne (oder zumindest eine »schwarze Null«) erwirtschaften, um nicht geschlossen oder privatisiert zu werden.

Das alte (aber nicht veraltete) Leitbild von Krankenhäusern als Säule der staatlichen Daseinsvorsorge (sprich des Sozialstaats) sah vor, dass »die Selbstkosten eines sparsam wirtschaftenden und leistungsfähigen Krankenhauses« abgedeckt wurden, wie es im ersten Paragraphen des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) von 1972 heißt. Mit dem Mythos einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen wurde dieses Leitbild bereits seit den 80er Jahren ideologisch unter Sperrfeuer genommen: Die Krankenhäuser seien zu teuer, zu ineffizient, zu intransparent, es fehle der Anreiz zu wirtschaftlichem Handeln.

Ein anderes Finanzierungssystem wurde dann schrittweise ab den 90er Jahren eingeführt und mit der vollständigen Umstellung auf »diagnosebezogene Fallgruppen« (kurz DRG für Diagnosis Related Groups) 2004 abgeschlossen. Mit den DRG werden Pauschalbeträge pro Behandlung gezahlt, die unabhängig von den tatsächlich entstehenden Kosten berechnet werden (das klingt grotesk, ist aber so). Die jährliche Neuberechnung dieser Pauschalbeträge zwingt die Krankenhäuser in einen ruinösen Wettbewerb mit allen anderen Krankenhäusern um die niedrigsten Kosten.

Circa zwei Drittel der Kosten im Krankenhaus fallen für Personal an. Da Pflege und Zuwendung im DRG-System keine »erlösrelevanten« Faktoren sind, wirken sie aus der Perspektive des Managements nur kostentreibend und stehen unter massivem wirtschaftlichen Druck. Wo das Management »Wirtschaftlichkeitsreserven« ausmacht, verschlechtern sich in der Regel die Versorgungs- und Arbeitsbedingungen.

Im DRG-System sind Krankenhäuser zudem gezwungen, immer mehr und mehr PatientInnen (»Fälle«) zu behandeln, um wirtschaftlich zu arbeiten. Deswegen steigen die Fallzahlen seit ihrer Einführung 2004/2005 kontinuierlich an. Wirtschaftliche Erwägungen fressen sich in therapeutische, medizinisch-ethische und pflegerische Entscheidungen – die Ökonomisierung/Kommerzialisierung der Medizin.

Zusammengefasst: Im Finanzierungssystem der Fallpauschalen sind die Krankenhäuser am erfolgreichsten, die möglichst viele »Fälle« in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wenig Personal behandeln. Deswegen wollen wir das gesamte System der Fallpauschalen abschaffen. Ein Schritt dahin ist eine gesetzliche Personalbemessung in Krankenhäusern (nicht nur für die Pflege, sondern für alle Berufsgruppen), deren Kosten jenseits der Fallpauschalen bedarfsgerecht finanziert werden müssen.

Mehr Personal nur durch Protest

Die Lösung für diese katastrophalen Zustände wäre eine für alle Krankenhäuser verbindliche Quote, wie viele Kranke eine Pflegekraft maximal versorgen darf – Das ist der Kern einer gesetzlichen Personalbemessung, wie sie DIE LINKE, die Gewerkschaft ver.di und verschiedene Pflege- und Ärzteverbände seit Jahren fordern. ver.di hat dafür im letzten Juni über 100.000 Beschäftigte vor die Krankenhäuser mobilisiert und im Herbst eine Petition an den Bundestag gestellt, die von 182.000 Menschen unterschrieben wurde. DIE LINKE stellte im Bundestag 2013 und 2015 einen entsprechenden Antrag, der von der schwarz-gelben Koalition 2013 ebenso abgelehnt wurde wie von der Großen Koalition im vorigen Jahr. Und obwohl die SPD sich »Personalmindeststandards in Krankenhäusern« 2013 in ihr Bundestagswahlprogramm geschrieben hatte, stimmte sie gegen unseren Vorschlag.

Eine gesetzliche Personalbemessung existierte in Form der »Pflegepersonalregelung« (kurz PPR) zwischen 1993 und 1995. Der Auslöser für Entwicklung und Einführung der PPR war eine große Protestbewegung in Westdeutschland 1988/89, die eine breite öffentliche Diskussion über den Pflegenotstand in Krankenhäusern bewirkte. Mit der PPR wurden Anforderungen für den Personalbedarf vorgegeben. Diese Anforderung stand im Verhältnis zum realen Pflegebedarf auf der jeweiligen Station und hat zu einem deutlichen Stellenzuwachs geführt, ungefähr 15.000 Vollkräfte wurden in diesen drei Jahren zusätzlich eingestellt. Genau deswegen wurde die PPR bereits 1995 wieder ausgesetzt. Als Argument für die Abschaffung der PPR wurde in der Gesetzesbegründung 1997 darauf hingewiesen, dass sie nicht mit den eingeführten Elementen von Wettbewerb in der Krankenhausvergütung kompatibel sei. Das bedeutet: Politisches Ziel von Wettbewerb ist Kostensenkung durch Stellenabbau. Und dieses Ziel wurde auch erreicht: Auf die Abschaffung der PPR folgte ein Jahrzehnt Personalabbau in der Pflege, bis 2006 wurden 47.000 Vollzeitstellen gestrichen, das entsprach 15 Prozent des gesamten Pflegepersonals.

Leicht abgefedert wurde diese Entwicklung durch ein »Pflegestellen-Förderprogramm«, mit dem zwischen 2009 und 2012 circa 17.000 Pflegestellen (wieder) geschaffen wurden. Wie bei der Einführung der PPR brauchte es erst öffentlichen Druck durch Massenprotest: Die Große Koalition reagierte mit dem Pflegestellen-Förderprogramm auf die größte Demonstration in der Geschichte des deutschen Gesundheitssystems. Unter dem Motto »Der Deckel muss weg« demonstrierten im September 2008 in Berlin 130.000 Menschen für eine bessere Krankenhausfinanzierung. Hierzu hatte ver.di gemeinsam mit den Arbeitgebern (Deutsche Krankenhausgesellschaft) mobilisiert.

An der grundsätzlichen Entwicklung hat das Pflegestellen-Förderprogramm von 2009 aber nichts verändert. Trotzdem setzt die Bundesregierung weiterhin auf Markt und Wettbewerb und tut nichts, um die Situation grundsätzlich zu verbessern. Anstatt eine gesetzliche Personalbemessung einzuführen, mit der die 100.000 fehlenden Pflegestellen geschaffen und finanziert werden können, hat sie im letzten Jahr ein mickriges »Pflegestellen-Förderprogramm II« beschlossen. In den nächsten drei (!) Jahren werden dadurch maximal 6.500 zusätzliche Stellen entstehen. Der Pflegenotstand wird so für viele weitere Jahre festgeschrieben.

Aussichtlos ist die Situation zum Glück aber nicht: Seit mehreren Jahren kämpft ver.di mit den Beschäftigten an der Berliner Charité für eine Personalbemessung per Tarifvertrag. Ihr Motto: »Mehr von uns ist besser für alle!« Während des (beeindruckenden) ersten Streiks für mehr Personal in der Geschichte des deutschen Gesundheitssystems waren im Juni 2015 für elf Tage 1.000 der 3.000 Betten gesperrt. Der Funke, den die Kolleginnen und Kollegen mit ihrem Arbeitskampf entzündet haben, springt nun bundesweit über: In vielen Krankenhäusern laufen Vorbereitungen, um ebenfalls für Entlastung und mehr Personal per Tarifvertrag zu streiten – und gegebenenfalls auch zu streiken. Als LINKE unterstützen wir die Kämpfe der Beschäftigten für Entlastung und mehr Personal und wollen mit ihnen Druck erzeugen, um eine gesetzliche Personalbemessung durchzusetzen – im Betrieb, in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten.

Harald Weinberg ist Sprecher für Krankenhauspolitik und Gesundheitsökonomie der Bundestagsfraktion und Jan Latza sein Mitarbeiter.

SCHWERE ZEITEN FÜR PRIVATE KRANKENVERSICHERUNGEN

  • Donnerstag, 21 Januar 2016

Noch vor wenigen Jahren galt es in weiten Bevölkerungskreisen als vorteilhaft, sich privat krankenversichern zu können. Und die meisten, die die Möglichkeit dazu hatten, haben auch tatsächlich ihre Unterschrift unter einen Versicherungsvertrag gesetzt. Die Zeiten haben sich geändert. Die Konstruktionsfehler der privaten Krankenversicherung (PKV) treten immer deutlicher zu Tage.

Niedrige Zinsen bedeuten hohe Beiträge

Eines der größten Probleme der PKV sind die niedrigen Zinsen. Die PKV funktioniert nach dem Risikoprinzip. Man versichert sein individuelles Krankheitsrisiko. Wird man älter, steigt das Risiko erst langsam, aber dann immer schneller. Liegen etwa die Krankheitskosten bei den 45- bis 64-Jährigen noch bei rund 3000 Euro pro Jahr und Kopf, verursachen 65- bis 84-Jährige bereits 6520 Euro an Krankheitskosten. Bei über 85-Jährigen werden mit rund 15.000 Euro schon mehr als das Zehnfache fällig, wie bei Menschen unter 30 Jahren. Damit die Beiträge im Alter aber nicht auf das Zehnfache anwachsen, ist der PKV die Bildung von Alterungsrückstellungen gesetzlich vorgeschrieben. Ist man jung, zahlt man höhere Beiträge als für die Deckung des eigenen Krankheitsrisikos notwendig wären. Wird man alt, so wird der Alterungsrückstellung wieder Geld entnommen, damit die Beitragssteigerung gedämpft wird. In der Zwischenzeit legt die PKV die Alterungsrückstellungen ihrer Versicherten auf dem Kapitalmarkt an. Hier kommen die Zinsen ins Spiel. Sind sie niedrig, dann braucht man deutlich höhere Einzahlungen, um das für das Alter benötigte Geld anzusparen. Da es sich hier um Zeiträume von typischerweise 30 Jahren Ansparzeit und mehr handelt, machen sich die Zinsen erheblich bemerkbar. Auf eine kurze Formel gebracht: Niedrige Zinsen bedeuten hohe Beiträge.

Aber auch wenn das Konzept der Alterungsrückstellungen wie vorgesehen funktioniert, sind für viele Versicherte die Beiträge im Alter höher als das Einkommen erlaubt. Denn in die Alterungsrückstellung ist weder die steigende Lebenserwartung, noch steigende Kosten im Gesundheitssystem eingepreist. Deshalb gibt es jedes Jahr erwartbare Beitragssteigerungen, die mit dem individuellen Risiko nichts zu tun haben. Dazu kommt dann noch die Geschäftspolitik vieler Versicherungsunternehmen. Mit allerlei legalen Tricks versuchen sie die Einstiegsbeiträge attraktiv zu halten – oft zu Lasten der langjährigen Bestandskunden. Die sind aber bei Ihrer Versicherung gefangen, denn bei einem Wechsel wären die Alterungsrückstellungen futsch und man müsste sich zu Konditionen versichern, als hätte man nie in die Alterungsrückstellungen eingezahlt.

PKV verschwendet Gelder ihrer Versicherten

Daher ist es kein Wunder, wenn immer weniger Menschen privat krankenversichert sind. Seit 2012 sinkt die Zahl der privat Krankenversicherten. Das ist ein Novum; zuvor hatte die PKV jahrzehntelang nur Zuwächse gekannt. Auch das könnte für die PKV zu einem neuen Problem werden. Denn wenn anteilig immer mehr ältere und kränkere Menschen versichert sind und weniger junge und gesunde Versicherte nachkommen, dann steht das Geschäftsmodell als Ganzes in Frage.

Weitere Konstruktionsfehler sind die im Vergleich zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) deutlich höheren Verwaltungs- und Provisionskosten. Außerdem geben private Krankenversicherungen für identische Behandlungen in der Arztpraxis deutlich mehr Geld aus als gesetzliche. Was wiederum dazu führt, dass Privatversicherte sehr gerne zu weiteren Terminen einbestellt werden. Zudem fehlt der PKV eine sinnvolle Steuerung der Leistungen. Das bedeutet, dass die Ärztinnen und Ärzte sämtliche Untersuchungen und Behandlungen einleiten dürfen – egal ob sinnvoll oder nicht. Die Folge: Obwohl Privatversicherte gesünder sind als gesetzlich Versicherte, sind die Ausgaben in der PKV pro Versichertem hier über 50 Prozent höher! Die PKV arbeitet also höchst ineffizient und verschwendet die Gelder ihrer Versicherten.

LINKE will PKV abschaffen

Prognosen sind natürlich schwierig, alleine weil keiner weiß, wie sich das wirtschaftliche Umfeld und die Zinsen entwickeln werden. Einige Gesundheitsökonomen sagen aber bereits voraus, dass die PKV in dieser Form vielleicht noch einige Jahre existieren wird, spätestens dann aber radikal umgebaut wird, untergeht oder politisch abgeschafft wird. Für letzteres setzt sich DIE LINKE ein. Denn es wäre unverantwortlich, die PKV mit ihren 8,8 Millionen Versicherten wissentlich gegen die Wand fahren zu lassen; das wäre für alle Beteiligten die teuerste Lösung. Besser wäre eine Absicherung aller in der gesetzlichen Krankenversicherung und ein geordneter Übergang.

Bildbeschreibung:v.l.n.r.: Christiane Feldmann (Kreissprecherin DIE LINKE Schwabach-Roth), Helmut Johach (Kreissprecher DIE LINKE Schwabach-Roth), Sara Weinelt (stellv. Betriebsratsvorsitzende), Pflegedirektorin Johanna Sturm, Klinikleiter Klaus Seitzinger, Betriebsrätin Edith Spangenberg, MdB Harald Weinberg

MEHR MARKT UNTER DEM DECKMANTEL DER QUALITÄT

  • Mittwoch, 2 September 2015
Mehr Markt unter dem Deckmantel der Qualität

„Fachidioten und Leistungssportler kann man durch Wettbewerb erzeugen, aber nicht umfassend gebildete, vielseitig kompetente und umsichtige, vorausschauend denkende und verantwortlich handelnde, in sich ruhende und starke, beziehungsfähige Persönlichkeiten.“ (Zitat Prof. Dr. Gerald Hüth)

Nicht rasant schnell, aber stetig und zielgerichtet verändert die Bundespolitik seit über 20 Jahren den Charakter der Krankenhäuser. Ehemals Einrichtungen des Sozialstaats, formte der politisch gewollte Wettbewerb aus ihnen marktwirtschaftlich orientierte Unternehmen.

Es gewinnt das Krankenhaus, das möglichst viele und möglichst komplexe Fälle mit möglichst geringem Mittelaufwand bewältigt. Eine direkte Folge davon ist der Notstand in der Krankenhauspflege. Immer weniger Personal muss immer mehr Patientinnen und Patienten in immer kürzerer Zeit versorgen. Musste 1991 rechnerisch eine Vollzeitkraft 45 Fälle versorgen, lag die Zahl 2013 schon bei 59. Die Verweildauer der Patientinnen und Patienten sank derweil von 14 auf durchschnittlich 7,5 Tage, der pflegerische Aufwand pro Liegetag ist damit stark angestiegen. Die meisten Pflegedienste sind überlastet, mit negativen Konsequenzen für ihre Arbeitsbedingungen und Gesundheit sowie für die Patientensicherheit. Der Krankenstand bei Pflegekräften liegt deutlich über dem branchenübergreifenden Durchschnitt. Dreiviertel (74 Prozent) aller Pflegekräfte gehen davon aus, dass sie ihre Tätigkeit unter den jetzigen Bedingungen nicht ohne Einschränkungen bis zu ihrem gesetzlichen Renteneintritt ausüben können.

Die Betriebswirtschaft ist das Non-plus-ultra der Krankenhaussteuerung geworden. Die Krankenhausplanung der Länder ist angesichts rückläufiger Mittel zahnlos geworden, der Markt richtet alles, die Krankenhausleitungen sind gezwungen, darauf zu reagieren – ob sie wollen oder nicht. Diese Umstände haben bereits das Denken bis auf die Ebene der Assistenzärztinnen und Assistenzärzte verändert. Es geht  selbst auf dieser Ebene mindestens auch darum, ob sich ein Patient lohnt oder nicht.

Was tut die Bundesregierung? Statt die Qualität mit einer Besinnung der Krankenhäuser auf ihren eigentlichen Zweck und einer Aufstockung des Personals zu erhöhen, fällt ihr mit dem Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) mal wieder nur die eine Antwort ein: Noch mehr Markt soll es richten.

DIE REGELUNGEN IM ÜBERBLICK

„PAY FOR PERFORMANCE“

„Pay for performance“ ist das Schlüsselwort. Innerhalb einer marktkonformen Denkweise ist das auch folgerichtig. Aber im Bereich der stationären Gesundheitsversorgung ist es völlig deplatziert.

In einem normalen Markt zahlt man natürlich für die erhaltene Leistung. Wenn die Tomaten vor Reife schon weich werden, zahlt der Kunde weniger als für feste, gutaussehende Tomaten. Analog gilt das gleiche für Äpfel, Gurken, Kleider, Tablets, Autos. Aber: In einem Markt gibt es Menschen, die sich eben nicht die teuersten Schuhe, die schnellsten Autos oder die rotesten Tomaten leisten können oder wollen. Im Bereich der Gesundheitsversorgung gibt es aber grundsätzlich den Konsens, dass jede und jeder denselben Anspruch auf eine hohe, eine gleich hohe Qualität hat – unabhängig von den eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Das unterscheidet „Pay for performance“ auf dem Markt und im Krankenhaus.

Die Akteure, die das KHSG vertreten, werden deshalb auch nicht müde, zu versichern, dass sie keine Billig-Krankenhäuser mit geringer Qualität für Billig-Versicherte einerseits und gute Qualität für Teuer-Versicherte wollen. Aber genau das wäre eigentlich das, was dabei herauskommt, wenn man den Wettbewerb zu Ende denkt.

Nun sollen laut KHSG die schlechten Krankenhäuser zunächst eine Warnung und dann erst weniger Geld bekommen. Wenn man genauer nachfragt, wie denn eine schlecht arbeitende Abteilung besser werden soll, wenn ihr weniger Geld zur Verfügung steht, kommt man dem Kern des KHSG schon ein bisschen näher: Die Kürzung soll dazu dienen, dass die schlechten Krankenhäuser oder Abteilungen einfach dicht gemacht werden, aus wirtschaftlichen Gründen.

Das ist eine Bankrotterklärung für die Krankenhausplanung. Unter diesen Bedingungen sind es nicht mehr die Länder, die tatsächlich bestimmen, wo welche Station, wo welches Krankenhaus gebraucht wird. Es sind noch mehr als heute die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse der Krankenhäuser unter künstlich geschaffenen Wettbewerbsbedingungen.

MESSUNG VON QUALITÄT

Meines Erachtens ist es eine Fiktion, die Qualität der Arbeit von Krankenhäusern umfänglich, sachgerecht oder gar rechtssicher messen zu können. Selbst die Befürworter sehen darin eine riesige Aufgabe über mehrere Jahre, die die Selbstverwaltung und das ihr nachgelagerte Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) stemmen sollen. Letztlich wird es aber auf eine Art Kennzahlensystem bzw. auf eine Abwandlung eines Performance-Measurement- Systems hinauslaufen. Im Betriebsmanagement sind die Probleme solcher Systeme bekannt: Solange die Komplexität überschaubar ist, können sie leidlich funktionieren. Wenn sich die tatsächliche Komplexität aber nicht ausreichend reduzieren lässt, dann kann ein solches System nicht mehr sinnvoll steuern, sondern wird eher zum Blindflug. Außerdem sorgen solche Systeme dafür, dass die Gesteuerten sich mehr auf die relevanten Kennzahlen als auf die Versorgungsrealität fixieren.

Das würde bedeuten, dass Krankenhausleitungen etwa dadurch versuchen, gute Kennzahlen bei der stationären oder poststationären Mortalität oder bei Rückeinweisungen versuchen, zu erreichen, indem sie weniger schwere Fälle bevorzugen. Natürlich kann und wird man hier wieder steuernd eingreifen und eine Morbiditäts- und Altersjustierung einbauen. Je nachdem, wie man diese ausgestaltet, kann es aber auch zu dem gegenteiligen Effekt führen, dass also gerade besonders alte und morbide Patientinnen und Patienten sich besser rechnen und bevorzugt werden. In jedem Fall muss die prästationäre, stationäre und poststationäre Morbidität gemessen werden, was jede Menge Spielraum für Interpretationen und Rechtstreitigkeiten eröffnet. Die Dokumentation wird zum entscheidenden Faktor für das Bestehen eines Krankenhauses.

Diese Befürchtungen sind nicht aus der Luft gegriffen. Gerade haben Forscher aus Chicago ein Medicare- und Medicaid-Programm in 3.300 Krankenhäusern untersucht. Nach diesem Programm erhalten seit 2014 diejenigen Krankenhäuser Honorarkürzungen, wenn sie gewisse Kennzahlen zur Qualität nicht liefern. Die Forscher stellten beispielsweise fest, dass Ausbildungskrankenhäuser, in denen Fehler zu Ausbildungszwecken genauer unter die Lupe genommen werden, durchschnittlich schlechter abschnitten als die übrigen Krankenhäuser. Die Kliniken, die besonders gut abschnitten, hatten oft einfach eine schlechte Dokumentation. Auch hatten die angeblich schlechten Kliniken häufiger Patientinnen und Patienten mit höherer Morbidität.

Dann kommt noch hinzu, dass das Messen und Dokumentieren noch wesentlich mehr Ressourcen binden wird als das unter DRG-Bedingungen bereits heute der Fall ist. Es wäre sicher interessant, herauszufinden, wie hoch die Overhead-Kosten sind, die das DRG-System verursacht, samt dem von ihm eigens geschaffenen Beruf, wie dem des Kodier-Arztes. Wie erfolgreich ein Krankenhaus ist, entscheidet sich heute schon mehr an der Qualifikation der Kodierer als an der Bedarfsnotwendigkeit oder der medizinischen Qualität. Wenn wir „Pay for performance“ einführen, wird es sicher neue wichtige Dokumentationsberufe geben.

Durch das Messen und Dokumentieren alleine wird aber die Qualität nicht besser. Die Qualität wird dann besser, wenn wir für mehr motivierte, qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sorgen, die unter guten Arbeitsbedingungen ihrer Arbeit nachgehen können. Das schafft der Gesetzentwurf nicht. Die wenigen Pflegestellen, die das Förderprogramm schaffen soll, werden bereits durch die zu erwartenden Fallzahlsteigerungen überkompensiert. Und selbst ob die neuen Stellen tatsächlich geschaffen werden, steht noch nicht fest.

Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung und die Koalition zumindest in Teilen auch nicht daran glauben, dass eine qualitätsorientierte Vergütung funktionieren wird. Aber sie wird den Effekt haben, dass sie zu Krankenhausschließungen und -privatisierungen  beiträgt. Deshalb sind die Koalitionäre damit auch einverstanden und flankieren den Gesetzentwurf auch noch mit einer als „Strukturfonds“ maskierten Abwrackprämie für Krankenhäuser.

DIE LINKE FORDERT:

1. Der erste Schritt, die Strukturqualität zu verbessern, muss mehr Personal sein. Eine verbindliche Personalbemessung kann als Strukturqualitätsmerkmal in die Krankenhausplanung aufgenommen werden, welches bedarfsgerecht – außerhalb der DRGs zu finanzieren ist. Hierzu haben wir einen Antrag gestellt („Versorgungsqualität und Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern verbessern – bedarfsgerechte Personalbemessung gesetzlich regeln“).

2. Die Wirkmächtigkeit der DRGs zurückdrängen und sie zuerst in besonders kritischen Bereichen durch bedarfsgerechte Finanzierung ersetzen.

DIE KRISE ALS VORWAND ZUR ZERSTÖRUNG DER ÖFFENTLICHEN GESUNDHEITSVERSORGUNG

  • Montag, 29 September 2014

Erschienen in: „Gesundheit braucht Politik“ Sonderausgabe 2014: Austerität. Tödliche Medizin für Griechenlands Gesundheitswesen.

Seit 2012 ist das deutsche Gesundheitsministerium (BMG) – von vielen unbemerkt – offizieller „Domain Leader“ für Strukturreformen im griechischen Gesundheitssystem. Das gesundheitspolitische „Memorandum of Understanding“ (MoU) wurde im April 2012 zwischen dem griechischen Gesundheitsministerium, dem BMG und der von der Europäischen Kommission eingesetzten Task-Force Griechenland unterzeichnet. Hierin wurden drei zentrale Bereiche benannt, in denen grundlegende Veränderungen erreicht werden sollen: Arzneimittelpolitik, die Einführung von Fallpauschalen in der stationären Versorgung und die Organisation des neu geschaffenen Krankenversicherungsträgers EOPYY.

Bereits ein Jahr zuvor, im Februar 2011, hatten das griechische Gesundheitsministerium und das BMG eine Erklärung unterzeichnet, in der verschiedene Beratungstätigkeiten des BMG vereinbart wurden. Ziel dieser Kooperation sei es, „die Effizienz und Effektivität der medizinischen Versorgung langfristig zu erhöhen“, verlautbarte der damalige Staatssekretär im BMG, Steffen Kapferer (FDP). Und er fügte hinzu: „Freunde helfen sich mit Ideen.“[1]

Freunde der Privatisierung

Die Tätigkeiten des BMG stehen im engen Zusammenhang mit den Kürzungsdiktaten der Troika. Der erste Kreditvertrag über 80 Mrd. Euro, den Griechenland zur Rettung der Gläubigerbanken im April 2010 unterzeichnete, war mit massiven Kürzungs- und Privatisierungsauflagen in nahezu allen Bereichen verbunden, die im ersten ökonomischen „MoU“ vorgeschrieben wurden. Dies umfasste auch die Auflage für grundlegende Veränderungen des Gesundheitssystems.

Anders als manch andere Spardiktate musste dieses Reformvorhaben der griechischen Regierung nicht aufgezwungen werden: Das bis dahin größtenteils öffentliche Gesundheitssystem war auch vielen griechischen Neoliberalen seit längerem ein Dorn im Auge. Die Krise bot die Gelegenheit, die Axt auch an dieser Säule des Sozialstaats anzulegen und die öffentliche Gesundheitsversorgung zu privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitsmärkten umzubauen.[2] Beide Seiten beteuern dementsprechend, dass Griechenland das deutsche Gesundheitsministerium um Unterstützung gebeten hat.

Es liegt in gewisser Weise nahe, für dieses Anliegen das BMG um Hilfe zu bitten: Wenn es darum geht, aus medizinischen und pflegerischen Dienstleistungen eine Ware zu machen, hat man im Gesundheitsministerium einiges an Expertise zu bieten. Schließlich gibt es nur in Deutschland ein duales System der Krankenversicherung, in dem auch private Versicherungsunternehmen eine Krankenvollversicherung anbieten können. Auch der seit 2004 vollzogene Systemwechsel in der Krankenhausfinanzierung hin zu Fallpauschalen hat die Marktförmigkeit der Gesundheitsversorgung zugespitzt, die beständig wachsenden Marktanteile und Profite der Krankenhauskonzerne nach der Einführung der Fallpauschalen sprechen für sich. Und die ambulante Versorgung ist in Deutschland seit jeher fest in der Hand der privat-unternehmerischen Ärzteschaft.

Propaganda und Realität im Widerspruch

Offizielle Verlautbarungen geben selbstverständlich andere Intentionen vor. „Die Bereitschaft zur Hilfe ist da“, es gehe nun darum, die „Chancen im Interesse der Patienten zu nutzen“, erklärte der damalige Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) anlässlich der Unterzeichnung des MoU im April 2012.[3] Im Rahmen eines Vortrags fasste ein mit der deutsch-griechischen Kooperation befasster Beamter des BMG die vermeintliche Zielsetzung so zusammen: „Unter Berücksichtigung effizienter Finanzierungsstrukturen werden ein universeller Zugang zum Gesundheitssystem und eine Verbesserung der Versorgungsqualität angestrebt.“[4]

Wie ernst es dem BMG mit dem universellen Zugang und den Interessen der Patienten ist, lässt sich leicht an seinen Aktivitäten nachvollziehen: Obwohl im MoU die „Verwaltung, Organisation, Pflichten und Zuständigkeiten der Staatlichen Organisation für Gesundheitsdienstleistungen (EOPYY)“ als einer von drei Schwerpunktbereichen festgelegt wurde, sind die 30 Prozent Nicht-Krankenversicherten (siehe Texte S. 13ff, S.16ff) für das BMG kein Thema. Auf die Frage, welche Maßnahmen die Bundesregierung Griechenland vorschlägt, um den über drei Millionen GriechInnen, die nicht mehr krankenversichert sind, schnellstmöglich wieder einen Zugang zum Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen, antwortete die Bundesregierung im Oktober 2012, dass man sich bei der „Unterstützung auf die im MoU … vereinbarten Schwerpunktthemen“ konzentriere.[5]

Auf eine Nachfrage, wie sich die Zahl der Nicht-Versicherten entwickelt habe, wurde mir im Februar 2014 mitgeteilt, dass hierzu keine offiziellen Statistiken vorlägen und die griechische Regierung von 1,5 Mio. Menschen ausgehe. Außerdem habe sie „bereits angekündigt, diesem Problem zeitnah abhelfen zu wollen“.[6] Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Zahl der Nicht-Versicherten mit Verweis auf die griechische Regierung halbiert worden ist, sondern auch, dass sich zwei Jahre nach der Unterzeichnung des MoU in dieser elementaren Frage nichts bewegt hatte. Unter Freunden drückt man auch mal ein Auge zu.

Die griechische Regierung hat im Juni 2014 zwar ein Programm angekündigt, mit dem Nicht-Versicherte wieder Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten sollen. Dieses Programm ist aber auf 340 Mio. Euro jährlich begrenzt – das sind gerade einmal zehn Euro pro Nicht-Versichertem und Monat. Viele werden also trotzdem ausgeschlossen bleiben, auch weil sie nicht in der Lage sind, die stark gestiegenen Zuzahlungen aufzubringen. Es handelt sich also bestenfalls um einen Schritt in die richtige Richtung, von zeitnaher Abhilfe oder gar einem universellen Zugang kann keine Rede sein.

Privatisierung mit der Brechstange

Zu beobachten ist in Griechenland ein systematischer Rückzug des Staates aus der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen und die Übergabe an Großunternehmen. Diese Entwicklung vollzieht sich in allen Bereichen: Bei Arzneimitteln wird der Markt für multinationale Pharmahersteller geöffnet und die Senkung der öffentlichen Arzneimittelausgaben auf die PatientInnen abgewälzt. In der ambulanten Versorgung wurden Anfang 2014 ca. 350 öffentliche Polikliniken zeitweilig geschlossen und teilweise als private Praxen und Labore wiedereröffnet. Die Beschäftigten waren größtenteils gezwungen, in den privaten Sektor zu wechseln. Zur Erinnerung: Als eines der Leitmotive für das Engagement in Griechenland proklamiert das BMG die oben erwähnte „Verbesserung der Versorgungsqualität“.

Auch der auf Anweisung der Troika 2011 geschaffene einheitliche öffentliche Versicherungsträger EOPYY hat unter dem Gesichtspunkt der Privatisierung seine Aufgabe erfüllt: Die öffentliche Finanzierung des Gesundheitssystems ist nachhaltig demontiert und delegitimiert. Wer braucht eine öffentliche Krankenversicherung, die bei Ärzten, Krankenhäusern und Apotheken als weitgehend zahlungsunfähig gilt? Und liegt es nicht nahe, mindestens eine private Zusatzversicherung abzuschließen, wenn permanent Leistungen eingeschränkt werden und die Selbstbeteiligung immer weiter steigt? Private Versicherungsunternehmen rollen derzeit den Gesundheitssektor auf.[7]

Diese Entwicklung dürfte ganz im Sinne des BMG sein, das in der bereits erwähnten Antwort auf unsere Kleine Anfrage das Fehlen von „wettbewerblichen Elementen (keine freie Wahl der Krankenversicherungsträger möglich)“ (siehe Fn. 5) als eines der Hauptprobleme von EOPYY ausgemacht hatte. Der Wettbewerbsfetisch verstellt den Blick auf das Wesentliche.

Markt und Austerität vor sozialen Menschenrechten

Bei den „Reformen“ im griechischen Gesundheitssystem, die das BMG anleitet, geht es nicht um eine verbesserte Versorgung oder andere Bedürfnisse der griechischen Bevölkerung. Es geht um unternehmerische Profite und die Schaffung von (Gesundheits-) Märkten.

Der Umbau des Gesundheitssystems unter diesen Prämissen ist aber nicht nur aus politischer und ethischer Perspektive zutiefst bedenklich, er verstößt auch gegen die Grundrechtecharta der EU. Dort heißt es in Artikel 35: „Jede Person hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der Union wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.“

Im zweiten „MoU on Specific Economic Policy Conditionality“ wurde Griechenland 2012 dazu verpflichtet, die Zahl der bei EOPYY beschäftigten GesundheitsarbeiterInnen in zwei Schritten um jeweils zehn Prozent zu reduzieren – auch aus diesem Grund wurden die öffentlichen Polikliniken geschlossen. Ebenso wurde Griechenland im Memorandum vorgeschrieben, seine öffentlichen Gesundheitsausgaben auf sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken.[8]Im Ergebnis wurde beispielsweise das Budget der Krankenhäuser in den letzten Jahren um 40 Prozent gekürzt – bei stark steigenden Fallzahlen. 

Die Troika, und in ihrem Schlepptau das BMG, beschränken mit ihrer Politik den Zugang zur medizinischen Versorgung der griechischen Bevölkerung empfindlich und verstoßen damit gegen europäische Grundrechte.[9] Eine prägnante Beschreibung dieser Politik lieferte 2011 der damalige griechische Gesundheitsminister Andreas Loverdos (PASOK) mit der Bemerkung, dass seine Kürzungen im Gesundheitssystem nicht mit dem Skalpell, sondern mit dem Schlachtermesser vorgenommen würden. Insbesondere die gesellschaftlichen Gruppen, die ohnehin am stärksten von der Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen und daher besonders schutzbedürftig sind, werden dadurch weiter an den Rand – und bis in den Abgrund – gedrängt.

In Griechenland ist durch die Zerstörung der öffentlichen Gesundheitsversorgung eine Form der Armut entstanden, die vorher weitgehend abgeschafft war: Gesundheitsarmut. Diese zu bekämpfen, muss oberste Priorität haben. Wenn es gelingt, die Privatisierungen zurückzudrängen und abzuwehren, wäre dies ein großer politischer und gesundheitlicher Erfolg für die griechische Bevölkerung und würde eine erhebliche Verschiebung in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen bewirken. Das deutsche Gesundheitsministerium ist in diesen Auseinandersetzungen derzeit sicherlich kein Verbündeter.

*Harald Weinberg ist Soziologe und  gesundheitspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag.


[1] Vgl. www.bmg.bund.de/ministerium/presse/pressemitteilungen/2011-01/deutschland-unterstuetzt-griechenland.html (25.08.2014)

[2] Es soll nicht die Reformbedürftigkeit des griechischen Gesundheitssystems vor Einbruch der Krise 2010 abgestritten werden (siehe Text S. 11). Die Diagnose passt aber in keinster Weise mit der neoliberalen Therapie zusammen, die in der Krise verordnet und durchgeführt wurde. Es wären auch andere Wege möglich gewesen.

[3] www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/presse/pressemitteilungen/2012-02/hilfe-fuer-griechisches-gesundheitswesen.html (25.08.2014) – hier kann auch das MoU abgerufen werden.

[4] Udo Scholten, 2013: „Arbeit der EU Task Force in Griechenland – Gesundheitspolitik in Griechenland“, in: Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. -GVG- (Hrsg.), Auswirkungen der Euro-Krise auf die nationale Gesundheitspolitik : Dokumentation des GVG-Euroforums in Potsdam am 11. Oktober 2012. Schriftenreihe der GVG, Bd. 72. Köln, S. 95.

[5] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE „Drohende humanitäre Krise im griechischen Gesundheitssystem und das Engagement des Bundesministeriums für Gesundheit“, Bundestags-Drucksache 17/10794, S. 7. Online abrufbar unter dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/107/1710794.pdf (28.08.2014)

[6] Deutscher Bundestag (Hrsg.), 2014: Plenarprotokoll. Stenographischer Bericht der 13. Sitzung der 18. Wahlperiode, 12.02.2014, S. 968. Abrufbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18013.pdf (25.08.2014)

[7] Vgl. www.griechenland-blog.gr/2014/06/private-versicherer-kapern-gesundheitssystem-in-griechenland (25.08.2014)

[8] Zum Vergleich: In Deutschland lag der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben am BIP 2012 bei 8,6 Prozent, eine Absenkung auf sechs Prozent würde Kürzungen in Höhe von ca. 60 Mrd. Euro bedeuten – das entspricht der Summe, die insgesamt für niedergelassene Ärzte und Medikamente ausgegeben wird.

[9] Siehe hierzu: Andreas Fischer-Lescano, 2013: Austeritätspolitik und Menschenrechte. Rechtspflichten der Unionsorgane beim Abschluss von Memoranda of Understanding. Herausgegeben von der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien, S. 30f.Mehr in dieser Kategorie: Mehr Markt unter dem Deckmantel der Qualität »

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Quelle: www.vermoegensteuerjetzt.de